„Wir wollen bereits die ganz frühen Gehirnveränderungen therapieren“
Woran arbeiten Sie gerade?
Wir versuchen gerade, eine Therapie gegen die ganz frühen Veränderungen bei Alzheimer zu entwickeln. Wir wissen heute, dass sich das Hirn bereits 15 bis 20 Jahre, bevor die ersten Anzeichen für eine Alzheimer-Erkrankung auftreten, verändert, indem sich die ersten falsch gefalteten Eiweiße im Gehirn ablagern. Während man normalerweise mit einer Therapie erst beginnt, wenn Krankheitssymptome auftreten, ist das bei Alzheimer eigentlich viel zu spät. Daher versuchen wir, eine Therapie gegen diese ersten Veränderungen im Gehirn zu entwickeln – und das schon 15 bis 20 Jahre, bevor Symptome zu erkennen sind.
Was sind die größten Herausforderungen?
Zuerst einmal müssen wir Personen finden, die in 15 Jahren an Alzheimer erkranken werden. Dann müssen wir versuchen, diese kleinen, missgefalteten Proteine aus dem Weg zu räumen, damit sie keine anderen Eiweiße anstecken. Wir glauben nämlich, dass es erst gar nicht zu einer Erkrankung kommen wird, wenn wir schon die ersten falsch gefalteten Eiweiße entfernen können. Doch das ist extrem schwierig, weil wir gar nicht so richtig wissen, wie diese ersten falsch gefalteten Eiweiße aussehen.
Wie finden Sie Menschen, die in 15 Jahren an Alzheimer erkranken werden?
Ich koordiniere die DIAN-Studie in Deutschland, ein weltweites Projekt, das den Verlauf der dominant vererbten Form der Alzheimer-Erkrankung untersucht. Von den Studienteilnehmern wissen wir, dass in ihren Familien Alzheimer vererbt wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie an Alzheimer erkranken werden, ist also sehr hoch. Daher können wir diese Menschen schon lange Jahre, bevor sie tatsächlich erkranken, regelmäßig auf Veränderungen im Gehirn untersuchen.
Haben Sie selbst Angst, an Alzheimer zu erkranken?
Ich habe wenig Angst, weil ich immer denke, das kommt noch lange nicht. So ist es auch in der Gesellschaft: Jüngere Menschen haben keine Angst vor Alzheimer. Für ältere Menschen, 70- oder 80-Jährige, ist das wohl eine der größten Ängste, die sie haben.
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, an Alzheimer zu erkranken?
Das ist eine Altersfrage: Je älter man wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit. Wenn man 100 ist, dann ist sie extrem hoch.
Wie sind Sie selbst als junger Mensch dazu gekommen, sich mit Alterserkrankungen zu befassen?
Mich hat schon früh interessiert, wie sich ein Mensch im Alter verändert. Vielleicht durch meine Großmütter, die ich als Kind regelmäßig gesehen habe, oder durch meine Mutter, die sich als ehemalige Krankenschwester in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, um die älteren Menschen gekümmert hat. Gibt es Dinge wie Weisheit? Warum ist man nicht mehr so schnell? Was passiert im alternden Gehirn, bevor man erkrankt? In den USA habe ich dann am National Institute on Aging untersucht, wie sich das Gehirn im Alter verändert. Zurück in Europa habe ich meine Faszination für Alzheimer entdeckt, immerhin die am häufigsten vorkommende neurodegenerative Erkrankung des alternden Gehirns.
Sie sind passionierter Bergsteiger – müssen Sie beim Bergsteigen wie auch in Ihrem Beruf jeden Schritt vorab bedenken?
Das ist bei mir in den Bergen wie im Labor: Wenn ich mir bei einem Ziel, sei es ein Berggipfel oder irgendein Forschungsprojekt, eingestehen muss, dass der Weg falsch ist, dann fällt es mir schwer umzukehren. Das lernt man erst mit dem Alter. Als ich jung war, wollte ich, koste es, was es wolle, auf den Gipfel oder das Ziel in der Forschung erreichen. Das hat sich in den vergangenen Jahren ein bisschen geändert: Wenn ich denke, es lohnt sich wirklich nicht mehr und jetzt ist es zu gefährlich, dann kehre ich um. Aber Umwege zu laufen, ist akzeptabel.
Es gibt viele verschiedene Forschungsansätze bei Alzheimer. Warum halten Sie Ihren Ansatz für vielversprechend?
Viele Forscherkollegen sind überzeugt, dass unser Ansatz richtig ist, nicht erst die Symptome zu behandeln, sondern bereits die ersten, ganz frühen Veränderungen im Gehirn, die wir eigentlich überhaupt noch nicht verstehen. Aber die meisten können sich nicht erlauben, an diesem Problem zu arbeiten, weil es viele Jahre dauern kann, bis man Erfolg hat. Am HIH wird mir dagegen eine langwierige Forschung ermöglicht. Ein vergleichsweise schneller zu erreichendes Ziel ist der „Mönch“ im Berner Oberland, ein Viertausender, den ich gern in diesem Jahr noch mit meiner älteren Tochter besteigen möchte.
Prof. Dr. Mathias Jucker (Jahrgang 1961) ist Direktor am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung an der Universität Tübingen. Er studierte Neurobiologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und promovierte 1988. Danach war er PostDoc und später Gruppenleiter am National Institute on Aging in Baltimore, USA, bevor er als Juniorprofessor an die Universität Basel ging. 2003 wurde er auf seine derzeitige Professur in Tübingen berufen. Prof. Jucker ist Sprecher für die Graduate School of Cellular and Molecular Neuroscience in Tübingen und seit 2009 am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Tübingen.
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