Genmutation für häufige Epilepsie im Kindesalter entdeckt
Nervengewitter im Gehirn
Die Gruppe der idiopathischen fokalen Epilepsien (IFE) umfasst verschiedene Krankheitsverläufe unterschiedlichen Schweregrades. Die Rolando Epilepsie ist eine der häufigsten Epilepsieformen des Kindesalters und betrifft etwa 15 Prozent aller Kinder mit Epilepsie. Sie verläuft meistens gutartig, die Anfälle sind gut therapierbar und verschwinden mit der Pubertät. Ein Beispiel für eine schwerer verlaufende Form der IFE ist das sogenannte Landau-Kleffner Syndrom. Bei den jungen Patienten führt die Erkrankung zu Anfällen und ausgeprägten Sprachstörungen. „Unsere Entdeckung gibt uns erstmals Hinweise auf den zugrundeliegenden Krankheitsmechanismus dieser häufigen Epilepsieformen des Kindesalters“, berichtet Dr. Sarah von Spiczak von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Sarah von Spiczak ist eine der Koordinatorinnen dieser Studie und Leiterin der Untersuchungen an der Klinik für Neuropädiatrie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel. Trotz dieses Erfolgs liegt noch viel Arbeit vor den Hirnforschern. Denn der genaue Mechanismus, der von der Genveränderung zur Epilepsie-Erkrankung führt, ist noch unverstanden.
Auch bei vielen anderen Epilepsieformen stehen die Forscher erst am Anfang der Entschlüsselung genetischer Ursachen. „Fortschritte wie die aktuelle Beschreibung des Zusammenhangs zwischen bestimmten genetischen Veränderungen und Epilepsie erzielen wir nur durch die enge Zusammenarbeit von Forschern und allen am Behandlungsprozess beteiligten Ärzten“, sagt der Initiator der Forschungsnetzwerke, Professor Dr. Holger Lerche, der auch Vorstand am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) und Ärztlicher Direktor der Abteilung Neurologie mit Schwerpunkt Epileptologie des Universitätsklinikums Tübingen ist.
Ionenkanalforschung als Schlüssel zum Therapie-Erfolg
Funktionsstörungen von Ionenkanälen spielen eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Epilepsien. Die meisten zur Behandlung von Epilepsie angewendeten Medikamente wirken bereits jetzt über solche Ionenkanäle und bremsen dadurch überaktive Nervenzellen. Die entdeckten Veränderungen des Gens GRIN2A stören die Funktion des sogenannten NMDA-Rezeptors, eines wichtigen Ionenkanals im Gehirn. Der Schweregrad der Epilepsie scheint abhängig von dem vermuteten Effekt der Veränderung. Der Ionenfluss eines solchen Kanals beeinflusst und bestimmt die elektrische Erregbarkeit von Nervenzellen. „Welche Vorgänge genau die Mutationen des Gens GRIN2A im NMDA-Rezeptor auslöst, wissen wir noch nicht. Wir kennen nur ihr Ergebnis, die epileptischen Anfälle. Das Verständnis dieser Vorgänge ist aber Voraussetzung für die Entwicklung neuer, besser wirksamer und verträglicherer antikonvulsiver Medikamente“, erklärt Dr. Johannes Lemke, Oberarzt der Abteilung Humangenetik am Inselspital Bern, der in enger Kooperation mit der CeGaT GmbH in Tübingen maßgeblich an dieser Studie beteiligt war.
DNA-Sequenzierung: Dem Defekt auf der Spur
Bei rund 80 bis 90 Prozent der klinisch diagnostizierten, komplexen Erkrankungen haben Forscher die ursächlichen genetischen Veränderungen bislang nicht gefunden. Auch für häufig auftretende Epilepsieformen sind bisher nur wenige Veränderungen bekannt. „Die Aufdeckung eines Gendefektes ist jedoch Voraussetzung für das Verständnis der Krankheitsentstehung und die Entwicklung von neuartigen Therapie-Konzepten“ betont Professor Dr. Bernd Neubauer, Leiter der Abteilung für Neuropädiatrie und Epileptologie am Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH, Standort Gießen. Zum Einsatz kam in der Studie unter anderem eine neue Methode, die es erlaubt zahlreiche Gene, die für eine Erkrankung relevant sind, parallel zu untersuchen. „Dadurch gelingt es uns in vielen Fällen rasch die Ursache der Erkrankung zu identifizieren“, sagt Dr. Dr. Saskia Biskup, eine der Koordinatorinnen dieser Studie und Forschungsgruppenleiterin am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, Universitätsklinikum Tübingen, die mit ihrem auf Genanalysen spezialisierten externen Labor „CeGaT“ die genetischen Untersuchungen durchführte. Zeitgleich und unabhängig wurden auch am Cologne Center for Genomics der Universität zu Köln unter der Leitung von Institutsleiter Professor Peter Nürnberg in Zusammenarbeit mit Professor Bernd Neubauer und PD Dr. Fritz Zimprich, Oberarzt an der Klinik für Neurologie der Medizinischen Universität Wien, Genanalysen durchgeführt, die die ersten Befunde aus Kiel und Tübingen bestätigten: "Interessanterweise fanden wir die gleichen Auffälligkeiten in GRIN2A wie unsere Kooperationspartner und konnten neben Mutationen zusätzlich auch krankheitsverursachende, strukturelle Veränderungen des GRIN2A Gens detektieren" sagen M. Sc. Dennis Lal und Mag. Eva Reinthaler, die die genetische Auswertung in Köln und Wien durchgeführt haben. „Ohne die beiden Netzwerke, unsere Partner aus Tübingen, Giessen, Wien und Köln, sowie zahlreichen Kollegen und Arbeitsgruppen weltweit, die DNA von betroffenen Patienten zur Verfügung stellten, bei komplexen statistischen Analysen unterstützt und funktionelle Untersuchungen durchgeführt haben, wäre es uns nicht möglich gewesen das verantwortliche Krankheitsgen eindeutig zu identifizieren“, so Johannes Lemke und Sarah von Spiczak.
Originaltitel der Publikation:
Mutations in GRIN2A cause idiopathic focal epilepsy with rolandic spikes
Nature Genetics, published online 11 August 2013; doi:10.1038/ng.2728; www.nature.com/ng/journal/vaop/ncurrent/pdf/ng.2728.pdf
Wissenschaftliche Studien-Partner:
Dr. med. Dr. rer. nat. Saskia Biskup, CeGaT GmbH, Tübingen und Hertie Institut für klinische Hirnforschung, Tübingen
Dr. med. Johannes Lemke, Abteilung für Humangenetik, Universitätskinderklinik, Inselspital, Bern
Prof. Dr. med. Holger Lerche, Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) und Abteilung Neurologie mit Schwerpunkt Epileptologie, Universitätsklinikum Tübingen, Tübingen
Prof. Dr. med. Bernd Neubauer, M. Sc. Dennis Lal, Abteilung für Neuropädiatrie, Sozialpädiatrie und Epileptologie am Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH, Standort Giessen
Prof. Dr. rer. nat. Peter Nürnberg, M. Sc. Dennis Lal, Cologne Center for Genomics (CCG), Universität zu Köln
Dr. med. Sarah von Spiczak, Prof. Dr. Ulrich Stephani, Medizinische Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und Klinik für Neuropädiatrie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel (UKSH)
Prof. Dr. med. Fritz Zimprich, Mag. rer. nat. Eva Maria Reinthaler, Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Wien, Österreich
Die Netzwerke EuroEPINOMICS und IonNeurONet werden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (EuroEPINOMICS, über ein Programm der European Science Foundation) und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (IonNeurONet) gefördert. Gegenstand der Förderung sind die Entschlüsselung der genetischen Ursachen von Epilepsien und anderen verwandten Erkrankungen, bei denen Ionenkanäle gestört sind, die die Erregbarkeit von Nervengewebe steuern.
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Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH)
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