Neuro-Vestibuläre Diagnostik
Schwindelbeschwerden haben eine hohe Prävalenz und bleiben trotzdem häufig rätselhaft in der alltäglichen, ärztlichen Praxis. Schwerwiegende Erkrankungen, die mit Schwindel einhergehen können, wie zum Beispiel Schlaganfälle, Multiple Sklerose oder Hirntumoren können durch die gängigen Bildgebungsverfahren oder andere, allgemein verfügbare neurologische Untersuchungen relativ einfach festgestellt werden. Dabei ist es meist nicht notwendig, genau zu verstehen, wie es eigentlich zu Schwindel kommt. Die Behandlung der zugrunde liegenden Erkrankung verbessert in vielen Fällen auch die Schwindelbeschwerden. Die Mehrheit der Patienten mit Schwindel haben allerdings keine erkennbare strukturelle Schädigung des Gehirns.
In diesen Fällen besteht das Ziel darin, die zugrunde liegenden Störungen im Rahmen eines pathophysiologischen Konzepts von Schwindel zu verstehen und zu behandeln. Wir lassen uns von der Annahme leiten, dass Schwindel Ausdruck einer Störung der Wahrnehmung der eigenen Orientierung bezogen auf die Umgebung ist. Somit sind prinzipiell Störungen jedweder neuraler Systeme, die zur stabilen Raumwahrnehmung beitragen, in der Lage, Schwindel hervorzurufen. Traditionell lag der Schwerpunkt des Interesses auf Störungen des vestibulären Systems, was sich im gegenwärtigen diagnostischen Repertoire widerspiegelt. Die Integrität der Bogengänge, der primären Afferenzen und des Vestibulo-Cerebellums wird üblicherweise durch vestibuläre Stimulationen und die davon abhängigen Augenbewegungen untersucht.
Gegenwärtig bauen wir ein neues Labor für die Funktiondiagnostik vestibulärer Störungen in Zusammenarbeit mit der hiesigen HNO-Klinik auf. Damit verbunden ist das Angebot einer Interdisziplinären Schwindelsprechstunde. Die diagnostischen Stimulationsmethoden werden kalorische und rotatorische Stimuli mit unterschiedlichen Beschleunigungen umfassen (Stuhldrehung, Kopf-Impuls-Test). Augenbewegungen werden, abhängig von der Fragestellung, elektro-okulographisch, video-okulographisch oder mit sog. Search Coils gemessen. Die Funktionstüchtigkeit der Otolithenorgane und ihrer zentralen Bahnen wird durch akustische Reize und Vibrationsstimuli und dadurch ausgelöste myogene Potentiale der Hals und Gesichtsmuskulatur bestimmt (cVEMP, oVEMP). Quantitative Kopf-Impuls-Messungen mit Search Coils und beide VEMP-Verfahren sind innovative Techniken, die das diagnostische Repertoire erweitern und neue Erklärungen für einige, bislang rätselhafte Formen von Schwindel bieten. Die Anwendung dieser modernen Verfahren in der Evaluation von Patienten, die an Schwindel leiden, ist eines unserer Interessen.
Dazu haben wir in den letzten Jahren Normbereiche erstellt. Diese neueren Verfahren erlauben uns, einen größeren Prozentsatz von Patienten mit ganz speziellen Formen von Schwindel zu diagnostizieren. Andererseits verbleibt weiterhin eine relevante Gruppe von Patienten, bei denen der Schwindel als idiopathisch zu beschreiben ist, also ungeklärt bleibt. Objektive Bestimmungen der Defizite gelingen hierbei kaum, anerkannte Konzepte der zugrunde liegenden Störung sind die Ausnahme. Psychogene Ursachen oder umschriebene Defizite in der sensomotorischen Verarbeitung werden diskutiert, bleiben aber umstritten. Um hier voranzukommen, untersuchen wir in unserem Labor, ob eingige Formen dieses idiopathischen Schwindels eine Konsequenz einer fehlerhaften sensomotorischen Verarbeitung mit Folgen für die stabile Raumwahrnehmung sind. Wir wenden hierzu psychophysische Techniken, die in den letzten Jahren in der Abteilung für Kognitive Neurologie entwickelt wurden und versuchen sie fortzuentwickeln. Psychophysische Daten werden mit validierten Fragebögen verglichen, um ihre Relevanz für Schwindelbeschwerden und ihre Beziehung zu psychopathologischen Auffälligkeiten zu erkennen. So haben wir beispielsweise kürzlich eine Studie an Patienten mit chronischem Schwindel durchgeführt, in der wir die weit verbreitete Annahme einer fehlerhaften Anpassung einer Efferenzkopie für die visuelle Wahrnehmung nicht bestätigen konnten.
Zentrum für Neurologie
Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
Abteilung Kognitive Neurologie
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